Das digitalisierte Gesundheitswesen kommt, wenn auch langsamer als geplant. In Zürich entsteht eine kantonsweite Plattform für den effizienten Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern.
Urs Binder,
Zürcher Oberland, Juli 2026: Ich leide an Diabetes Typ 2, hohem Blutdruck und erhöhten Blutfettwerten. Mein Hausarzt verschreibt mir Medikamente und gibt die dringliche Empfehlung, meinen Lebensstil zu ändern. Abnehmen, mehr Bewegung, gesünder essen. Zuckerwerte und Blutdruck müssen regelmässig überwacht werden, ebenso meine Fitnessbemühungen. Mein Leben wird aber nicht durch Blutentnahmen und Kontrollbesuche beeinträchtigt: Ein in die Kontaktlinse implantierter Sensor misst laufend die Blutzuckerwerte und warnt mich vor drohender Unterzuckerung. Ein Wearable motiviert mich zu mehr Bewegung. Alle Daten werden automatisch ins elektronische Patientendossier übermittelt und stehen dem Arzt sofort zur Verfügung.
Noch ist es Zukunftsmusik
So oder ähnlich könnte eine Patientengeschichte in zehn Jahren aussehen. Das Gesundheitswesen wird durch die Digitalisierung umgekrempelt. Für jeden Patienten, der dies wünscht, gibt es ein elektronisches Patientendossier (EPD). Der Hausarzt führt die Krankengeschichte elektronisch. Auf die Daten können dank einer zentralen Kommunikationsplattform alle Leistungserbringer zugreifen, vom Spital bis zur Spitex – sofern der Patient sie dazu ermächtigt hat. Denn er ist der Datenherr und bestimmt, wer welche Daten sehen und ändern kann. Richtig eingesetzt, bringt die Digitalisierung echten Nutzen:
- Medienbruchfreier Datenaustausch zwischen den Leistungserbringern.
- Vermeiden von Erfassungsfehlern.
- Effizientere Prozesse, sowohl intern in Praxis und Spital als auch übergreifend über alle Leistungserbringer kein Zeitverlust aufgrund des Postwegs.
- Bessere Behandlungsqualität über die gesamte Behandlungskette – wichtig vor allem für chronisch Kranke und polymorbide Patienten.
Gerade der letzte Punkt ist von grösster Wichtigkeit: Bei einer Fehlmedikation aufgrund mangelhafter Absprache drohen gefährliche Wechselwirkungen, wie Thomas Bähler, Head of Solutions bei Swisscom Health, weiss: «Die Folgen können tödlich sein. Es gibt in der Schweiz jedes Jahr mehr Todesfälle wegen Fehlmedikation als durch den Strassenverkehr, die Grippe und HIV zusammen.»
Fast am wichtigsten ist aber dies: «Mit dem EPD erhält der Bürger erstmals in der Geschichte die Möglichkeit, sein Recht auf seine eigenen medizinischen Daten wirklich auszuüben». Das hält Dr. Samuel Eglin fest, stellvertretender Generalsekretär der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und Präsident des Vereins Trägerschaft ZAD. Das genannte Recht hat der Patient zwar schon heute. Aber es ist mühsam, die Daten überall separat einzufordern und zum einem Gesamtbild zusammenzustellen – und was man erhält, kommt meist auf Papier.
Kantonsweite Plattform in Zürich
Zürich hat sich entschieden, eine einheitliche Kommunikationsinfrastruktur für das Gesundheitswesen aufzubauen. Es ist das bisher grösste E-Health-Projekt der Schweiz. Unter Federführung der Gesundheitsdirektion haben sich die Verbände der Leistungserbringer zum Trägerverein Zurich Affinity Domain (ZAD) zusammengeschlossen. Er soll eine kantonsweite Stammgemeinschaft gemäss der E-Health-Strategie des Bundes aufbauen, siehe Box. «Die Initialzündung war ein E-Health-Forum im Jahr 2011», schildert Samuel Eglin die Vorgeschichte. «Danach haben wir zwei Jahre lang intensive Gespräch mit den Leistungserbringern geführt. Das war ein langer Prozess. Aber jetzt haben wir eine stabile Trägerschaft mit hoher Akzeptanz.»
«Der Patient will nicht zweimal untersucht werden, nur weil der Hausarzt sich nicht an der elektronischen Kommunikation beteiligt.»
Dr. Samuel Eglin, stv. Generalsekretär, Gesundheitsdirektion Kt. Zürich
Für die technische Umsetzung gab es im Sommer 2015 eine öffentliche WTO-Ausschreibung. Nach einer ausführlichen Evaluation erhielt Swisscom Health den Zuschlag. Als Basis dient die Plattform Swisscom Health Connect, die sich in anderen Kantonen bei über 200 Spitälern und 2000 Ärzten bereits bewährt hat. Für eine sichere Kommunikation kommen die neuesten Verschlüsselungs- und Authentifizierungsmethoden zum Einsatz. Die Patienten können über das Evita-Portal auf ihr Dossier zugreifen.
Selbstfinanzierende Lösung
«Wir wollten einen Partner, der sichere und grossvolumige ICT-Lösungen anbieten kann. Und er sollte zu unserer Strategie passen und mit uns zusammen ein Geschäftsmodell erarbeiten», so Eglin. Im Kanton Zürich soll der Betrieb der Plattform und des EPD nämlich ohne staatliche Subventionen auskommen. «Das ist schweizweit einzigartig und auch das Einzige, das langfristig Sinn macht».
Zur Finanzierung des Betriebs bietet die ZAD den Leistungserbringern Dienstleistungspakete im Abonnement an. «Diese Pakete müssen preislich attraktiv sein und einen echten Nutzen bringen. Wir können ja niemanden zwingen, mitzumachen», hält Samuel Eglin fest. Für Ärzte, Spitex-Organisationen, Apotheken und andere Akteure sind unterschiedliche Pakete geplant. Die genaue Zusammensetzung der Services ist noch in Entwicklung. Dazu startet im Sommer 2016 ein Einführungsprojekt mit ausgewählten Leistungserbringern. Der kantonsweite Startschuss ist für 2017 vorgesehen. Dann können, wenn alles nach Plan läuft, rund 4000 Leistungserbringer die neue Infrastruktur nutzen.
Eine zentrale Rolle bei der Unterstützung des Projekts und der Begleitung der übrigen Leistungserbringer wird das Universitätsspital Zürich einnehmen. Den Spitälern kommt überhaupt eine grosse Bedeutung zu: Sie sind gesetzlich als Erste zur elektronischen Kommunikation verpflichtet und nehmen so eine Vorreiterrolle ein.
Neue Klinik, neueste Technik
Wie das aussehen könnte, zeigt die Cardiance Clinic in Pfäffikon SZ. Sie ist die erste ambulante Herzklinik der Schweiz, und sie ist voll digitalisiert. Die Klinik bietet Diagnose, Behandlung, Rehabilitation und Prävention an. «Die Technik erlaubt es heute, fast alle Kathetereingriffe ambulant durchzuführen. Das ist bei vielen Medizinern noch nicht angekommen», erklärt Verwaltungsratspräsident Dr. Thomas Mattig. Für die Patienten sei es angenehm, nicht in ein grosses Spital einzurücken und womöglich noch die Nacht dort zu verbringen.
«Die Effizienzgewinne liegen dermassen auf der Hand, dass das mittelfristig jede Klinik und jede Arztpraxis umsetzen sollte.»
Dr. Thomas Mattig, Verwaltungsratspräsident Cardiance Clinic
Die Hausärzte sperren
Da steht eine Mehrheit der Hausärzte noch ganz woanders. Erst eine Minderheit dokumentiert heute digital, je nach Quelle sind es zwischen 20 und 40 Prozent. Fax, in anderen Branchen praktisch verschwunden, ist im Gesundheitswesen nach wie vor allgegenwärtig. Mit fatalen Folgen für die Sicherheit der Daten: Laut Thomas Bähler erreichen ein bis zwei Prozent der Faxmeldungen nicht den richtigen Empfänger. «Hochgerechnet auf mehrere hunderttausend Faxe, geht so jedes Jahr eine substanzielle Menge an medizinischen Daten an den falschen Ort.»
«Viele Faxmeldungen mit medizinischen Angaben gehen an den falschen Empfänger.»
Thomas Bähler, Head of Solutions, Swisscom Health AG
«Im Gesundheitswesen fehlt die Motivation zur Veränderung. Es leben alle gut und man wird von Patienten überrannt.»
Prof. Andréa Belliger, Leitung IKF Luzern
In einem sind sich die Experten einig: Die Ärzteskepsis ist auch ein Generationenproblem. Viele Hausärzte, die noch auf Papier dokumentieren, stehen wenige Jahre vor der Pensionierung und wollen ihre Praxis nicht mehr umstellen. Für junge Ärzte, die heute im Spital lernen, ist die elektronische Dokumentation dagegen selbstverständlich. Auch die meisten Gemeinschaftspraxen arbeiten von Anfang an mit der elektronischen Krankengeschichte.
Digitalisierung wird kommen
Abonnierbare Cloud-Lösungen ermöglichen es heute, die Kosten für die Praxissoftware langfristig zu verteilen, statt einmal gross zu investieren. Um die Digitalisierung werden die Arztpraxen jedenfalls nicht herumkommen. Denn ohne digitalisierte Praxis mit automatischer Datenübergabe ist ein EPD nur mit enormem Aufwand zu pflegen. Die Patienten aber wünschen zunehmend elektronischen Zugriff auf ihre Daten, wie Samuel Eglin betont: «Der entscheidende Druck wird letztlich über den Patienten kommen. Er will nicht zweimal untersucht werden, nur weil der Hausarzt nicht bereit ist, sich an der elektronischen Kommunikation zu beteiligen.»
Andréa Belliger ergänzt: «Die Leute möchten selbst partizipieren, offener kommunizieren und Transparenz haben. E-Health ist viel mehr als digitale Kommunikation und EPD. Der Hintergrund ist die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken.» Dazu gehören für Belliger zum Beispiel webbasierte Communities wie patientslikeme.com, wo sich Patienten mit bestimmten Krankheitsbildern austauschen «und so vielleicht zu einem besseren Resultat kommen, als wenn sie sich nur mit einem Arzt unterhalten».